FORUM RUNDBRIEF: Alle gleich?
Artikel des Rundbriefs „Alle gleich?“ des Forum Umwelt und Entwicklung vom Redaktionsteam des Rundbriefs.
Das Beispiel der sogenannten Cancer Alley in den USA zeigt, Plastik macht krank, aber nicht alle in gleichen Maßen.
Alle gleich?
Das Beispiel der sogenannten Cancer Alley in den USA zeigt, Plastik macht krank, aber nicht alle in gleichen Maßen
Die Produktionsstandorte der chemischen Industrie emittieren weltweit Chemikalien, in Form von Abgasen, Leckagen oder bewusstem Ablassen solcher Stoffe. Dies belastet Böden, Luft, Wasser und auch die Gesundheit von Anwohner:innen enorm, aber nicht immer gleich. Wie stark Menschen Belastungen ausgesetzt sind oder sich davor schützen können, korreliert mit strukturellen Diskriminierungsmechanismen. Der Süden von Louisiana zeigt, dass die rassistische Ausbeutung hier seit Jahrhunderten fortgesetzt wird.
Bestandteile und Abbauprodukte von Plastik, wie Mikroplastik können die menschliche Gesundheit schädigen. Bestimmte Additive, also Chemikalien, die Plastik zugesetzt sind, um spezifische Eigenschaften zu erhalten wie Weichmacher, Flammschutzmittel, UV-Stabilisatoren und Farbstoffe können allmählich aus dem Plastik entweichen und in die Umwelt und den Menschen gelangen. Dort können sie sich, je nach Beschaffenheit und Eigenschaft, anreichern, weiterverbreiten oder in Metabolite verfallen. Der dauerhafte und massenhafte Eintrag von Chemikalien und Plastik in die Umwelt sorgt für eine permanent wachsende Hintergrundbelastung mit lokalen Hotspots. Dies ist ein Grund dafür, warum bestimmte Krebsarten, Stoffwechselerkrankungen oder Entwicklungsstörungen global zunehmen. Dabei sind nicht alle Menschen gleich stark mit Chemikalien belastet. Wohnort, Alter, Beruf, Gender und Einkommensstatus beeinflussen die Exposition und den Schutz vor schädlichen Chemikalien enorm.
Weniger beachtet ist jedoch, dass die Emission und Exposition von Schadstoffen aus dem Plastik sich nicht nur auf die Nutzungsphase beschränkt. Vielmehr sind Menschen und Umwelt auch bei der Ressourcenextraktion und Produktion Schadstoffemissionen ausgesetzt.
Plastik ist ein Produkt der petrochemischen Industrie und wird aus Erdgas oder -öl hergestellt. Die Förderung und Weiterverarbeitung von Erdöl in Raffinerien ist mit Umweltauswirkungen verbunden. Nicht nur sind es konkrete Eingriffe in die Natur, es entstehen auch Emissionen von Schadstoffen bei der Förderung und dem Transport. Beispielsweise traten während der Ölpest im Golf von Mexiko im Jahr 2010 nach einer Explosion auf einer Ölbohrplattform mehrere Millionen Liter Rohöl aus. Die ökologischen und ökonomischen Schäden trafen die Menschen vor Ort hart. Solche Havarien sind Extremfälle. Doch Emissionen in kleinerem Maßstab entstehen täglich.
Plastik – giftige Grundbausteine
Auch die Produktion von Plastik kommt nicht ohne schädliche Chemikalien aus – nicht nur in Form der Additive. Schon die Ausgangsstoffe einzelner Plastikarten sind giftig. Exemplarisch sei Vinylchlorid, ein Baustein für die Herstellung von PVC, genannt. PVC ist einer der global meistverkauften Kunststoffe. Vinylchlorid ist giftig, krebserregend und kann bei Luftkontakt explodieren.
2023 kam es in Ohio, USA, zu einem Zugunglück. Ein Güterzug, der Vinylchlorid geladen hatte, entgleiste. Um eine Explosion zu verhindern, entschieden sich die Behörden, das Vinylchlorid aus den Tanks zu lassen und kontrolliert abbrennen zu lassen. Eine gängige Praxis bei Unfällen mit Chemikalien. Entweder werden diese geborgen oder verbrannt. Bei der Verbrennung entstanden ebenfalls giftige Gase. Die Folge war eine breite Kontamination der umliegenden Fließgewässer mit Tausenden toten Fischen. Auch wenn solch ein Unfall eher die Ausnahme ist, hat er enorme Auswirkungen auf Umwelt und Bevölkerung. Bestimmte Dosen von Chemikalien werden bei der Produktion konstant emittiert – bewusst oder unbewusst. Hierfür gibt es eine Reihe von Beispielen in Deutschland, genannt sei stellvertretend Altötting, wo über Jahre die Chemikalie PFOA aus der Produktion aus deinem Chemipark emittierte und sich in der Umgebung anreicherte.
Cancer Alley – der vergiftete Produktionsstandort im Süden der USA
Zurück in die USA. Im US-Bundesstaat Louisiana reihen sich 130 km entlang des Mississippis petrochemische Fabriken und Raffinerien aneinander. Die Region ist sowohl durch die Dichte der Produktionsanlagen gekennzeichnet als auch durch die höchste Krebsrate und die schlechteste Luftqualität in den USA. Deswegen wird die Gegend auch Cancer Alley genannt. Über 50 verschiedene Chemikalien zirkulieren als Produktionsabgase in der Luft.[1] Ein Zusammenhang zwischen Krebsfällen und Luftqualität erscheint offensichtlich, auch wenn direkte Kausalzusammenhänge nicht immer vollständig nachgewiesen werden können. Doch solange krebserregende Stoffe produziert und emittiert werden, werden die Folgen in Kauf genommen.
Noch etwas ist deutlich höher als in dem Rest der USA: Über 50 % der Menschen, die in der Nähe der Industrieanlagen wohnen sind Schwarze Menschen. Die Firmen haben Industriestandorte vor allem dort errichtet, wo es eine größere Schwarze Community und viele einkommensschwache Haushalte gibt. Geringe finanzielle Mittel, gekoppelt an eine hohe Umweltbelastung durch Chemikalien belastet die Menschen doppelt. Weniger Geld zu haben, bedeutet geringere Schutzmöglichkeiten vor chemischen Belastungen. Bspw. weil die Menschen mehr an der Luft arbeiten oder ihre Häuser mehr Luft von außen hereinlassen. Viele können sich präventiven Gesundheitsschutz nicht leisten und auch Behandlungen sind oft unbezahlbar. In Gegenden wie Cancer Alley führt dies dazu, dass Menschen der Luftverschmutzung stärker ausgesetzt sind und daher die Krebsraten steigen.[2]
Umweltrassismus
Der Begriff Umweltrassismus wurde von Schwarzen Aktivist:innen in den 1980er-Jahren in den USA geprägt. Sie wollten damit auf die überproportionalen Auswirkungen von Umweltgefahren und Verschmutzungen auf Schwarze und Indigene Communities hinweisen. Die überdurchschnittlichen Krebsraten vor allem Schwarzer Menschen in Louisiana können als Konsequenz von Umweltrassismus bezeichnet werden. Rassismus als strukturelles Machtdefizit zwischen weißen und nicht weißen Menschen wirkt sich auf viele Lebensaspekte aus: Einkommensunterschiede, Chancenungleichheit, Repräsentationslücken, Lebenserwartung bzw. Anfälligkeit für Krankheiten. Umweltfaktoren wie Luftverschmutzung verstärken die Diskrepanzen. Oder andersherum, diese Diskrepanzen machen Menschen anfälliger für Umweltfaktoren. Ein sich gegenseitig verstärkender Effekt.
In der Cancer Alley spielt nicht nur der aktuelle Umweltrassismus eine Rolle. Vielmehr steht die Region in einer Jahrhunderte alten Tradition rassistischer Ausbeutung. Dort, wo heute die Produktionsstandorte der Industrie liegen, waren bis zur offiziellen Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert über 500 Plantagen angesiedelt, die vorranging Zuckerrohr anbauten. Dass heute v.a. Schwarze Communities dort leben, ist eine Folge der Kolonialisierung und Sklaverei.
Als sogenannte Fenceline Communities (Grenzgemeinschaften) befinden sich die betroffenen Communities heute in direkter Nachbarschaft zu den petrochemischen Anlagen. Deutlich weiter weg liegen die Produktionsstandorte von Orten mit einer reicheren und weißeren Bevölkerung.
Neben der anhaltenden Verschmutzung und damit einhergehenden Belastung der vornehmlich Schwarzen Bevölkerung, haben Firmen in der Vergangenheit oftmals Friedhöfe überbaut, wenn sie expandierten. Der Zuckerrohranbau zur Sklavenzeit war eine der härtesten und tödlichsten Anbaukulturen. Dementsprechend finden sich vor Ort hunderte, teils improvisierte Friedhöfe, die mit der Zeit in Vergessenheit geraten sind. Das Überbauen der Friedhöfe sendet ein klares Zeichen: Schwarze Gemeinschaften und ihre kulturellen Stätten sind nicht erhaltenswert.[3]
Proteste, Selbstorganisierung und das große Ganze
Dass die Luft voller Chemikalien ist, hängt mit den Genehmigungen zusammen, die Firmen beantragen können. Ein Beispiel aus der Gemeinde Sankt James im Süden des Bundesstaats Louisiana, direkt in der Cancer Alley zeigt, dass lokale Behörden Firmen die Erlaubnis geben, gegen nationale Standards zur Luftreinhaltung zu verstoßen. Doch dagegen regt sich Widerstand. Für die Anwohner:innen ist klar, dass die chemische Industrie sie krank macht. Es gibt niemanden, die oder der nicht im Umfeld Menschen durch Krebs verloren hat, Menschen kennt, die an Krebs erkrankt sind oder selbst an Krebs erkrankt ist. Währenddessen rückt die Industrie bis an die Vorgärten der Anwohner:innen heran.
Viele Menschen und Communities organisieren sich und erringen Teilerfolge. Die Gruppe St. James Rise erkämpfte z.B., dass die Behörde in Louisiana, die dem Unternehmen Formosa Plastics 15 Genehmigungen erteilte, gegen nationale Luftreinhalte Standards zu verstoßen, diese zurücknehmen musste. Die Behörde hatte nachweislich nicht die gesamte Bandbreite an Umweltschäden berücksichtigt, die die Emissionen des Unternehmens verursachen würden.[4]
Die lokalen Initiativen sind dabei keineswegs sogenannte NIMBYs (Not in my Backyard, nicht in meinem Hinterhof). Sie möchten nicht nur, dass die Produktionsstätten der chemischen Industrie aus ihrem Gebiet verschwinden. Vielmehr ordnen viele die Produktion der petrochemischen Industrie und deren Emissionen in globale Umweltkrisen ein. Klimawandel und die Verschmutzung der Erde mit Chemikalien und Plastik sind ein globales Problem, mit lokalen Verursachern. Auch sehen viele das Problem, dass die chemische Industrie immer mehr auf Expansion setzt. Immer mehr Plastik und Chemikalien sollen produziert werden. Durch weniger strenge Umweltauflagen, billige fossile Energieträger vor Ort und Subventionen wird der Süden der USA weiter ein wichtiger und wachsender Produktionsstandort sein – auch für den europäischen Markt.
Redaktionsteam des Rundbriefs. Leider kam ein Artikel von Betroffenen vor Ort nicht zustande. Wir haben daher zu dem Thema recherchiert und bereits einige Berührungspunkte gehabt. Allerdings schreiben wir aus einer weißen und nicht betroffenen Perspektive.
[1] Donna Christiano Campisano (2023): What is Cancer Alley? In verywell health
https://www.verywellhealth.com/cancer-alley-5097197
[2] Tristan Baurick (2021): Poverty, air pollution cause cancer spike in Louisiana industrial areas, Tulane study says.
https://www.nola.com/news/environment/article_4e66d730-d51c-11eb-9c7d-af03bda4a245.html
[3] Brown, I. J. et al (2021): Environmental Racism in Death Alley, Louisana.
https://forensic-architecture.org/investigation/environmental-racism-in-death-alley-louisiana
[4] Delaney Dryfoss (2024): Formosa Plastics gets air permits back, but a few hurdles remain. In The Lens.
https://thelensnola.org/2024/02/08/formosa-plastics-gets-air-permits-back-but-a-few-hurdles-remain/