FORUM RUNDBRIEF: Wir schicken ihnen Vitamine und sie schicken Abfall und Gift
Artikel „Wir schicken ihnen Vitamine und sie schicken Abfall und Gift “ des Rundbriefs des Forum Umwelt und Entwicklung von Sedat Gündoğdu.
Insbesondere der Export von Kunststoffabfällen aus der EU in Nicht-OECD-Länder wie die Türkei ist eine Form des Müll-Neokolonialismus, der zu erheblicher Umweltverschmutzung führt. Nun beschloss die EU, den Export von Kunststoffabfällen in Nicht-OECD-Länder innerhalb von 2,5 Jahren einzustellen. Dies lässt aber Fragen zur Überwachung und zu den Auswirkungen auf OECD-Länder offen. Alternative Exportziele für Kunststoffabfälle, einschließlich möglicher Weiterleitungen in Drittländer durch OECD-Mitglieder sind ebenfalls bedenklich. Die EU muss klare Maßnahmen ergreifen, um den Müllhandel zu beenden und Recycling sowie Entsorgung innerhalb ihrer Grenzen sicherstellen und damit Umweltbelastungen drastisch zu reduzieren.
Wir schicken ihnen Vitamine und sie schicken Abfall und Gift
Das Handicap der EU beim Plastikmüll
Insbesondere der Export von Kunststoffabfällen aus der EU in Nicht-OECD-Länder wie die Türkei ist eine Form des Müll-Neokolonialismus, der zu erheblicher Umweltverschmutzung führt. Nun beschloss die EU, den Export von Kunststoffabfällen in Nicht-OECD-Länder innerhalb von 2,5 Jahren einzustellen. Dies lässt aber Fragen zur Überwachung und zu den Auswirkungen auf OECD-Länder offen. Alternative Exportziele für Kunststoffabfälle, einschließlich möglicher Weiterleitungen in Drittländer durch OECD-Mitglieder sind ebenfalls bedenklich. Die EU muss klare Maßnahmen ergreifen, um den Müllhandel zu beenden und Recycling sowie Entsorgung innerhalb ihrer Grenzen sicherstellen und damit Umweltbelastungen drastisch zu reduzieren.
Im Frühjahr 2021 wurde ich von einem Anruf von İzzettin Yıldırım, einem Landwirt aus dem Dorf Küçükçıldırım in Adana, Türkei, geweckt. Er beschrieb die brennenden Plastikabfälle, die achtlos entlang des Bewässerungskanals seines Dorfes verstreut waren und größtenteils aus Deutschland und dem Vereinigten Königreich stammen. Yıldırım brachte seine Frustration über die Verschmutzung und den Geruch zum Ausdruck, die durch diese Abfälle verursacht werden, und bat um Unterstützung. Auf meinem Weg in das Dorf passierte ich zahlreiche Recycling-Anlagen und eine der größten Kunststofffabriken des Landes. Ich traf İzzettin und diskutierte mit ihm, während wir die Abfälle untersuchten. Mit seinen Worten fasste er die Praktiken des Recyclings und des Handels mit Plastikmüll in einem einzigen Satz zusammen: „Wir schicken ihnen Vitamine von hier, und sie schicken uns ihren Abfall und ihr Gift.“ İzzettins Müll-Vitamin-Beziehung könnte eine prägnante Beschreibung des Müll-Neokolonialismus sein, einer neuen Form des klassischen westlichen Kolonialismus. Seit Jahren prägt dieser Kolonialismus die Beziehungen zwischen dem Westen und dem Osten. In Bezug auf Plastik hat sich diese Beziehung in eine Quelle der Umweltverschmutzung verwandelt.[1]
Der Müllberg wächst
Seit 1988 hat der weltweite Handel mit Kunststoffabfällen ein erhebliches Wachstum erfahren, wobei die Vereinigten Staaten, Japan und Deutschland eine entscheidende Rolle bei dieser Expansion spielten. Ursprünglich war China der führende Importeur, bis seine Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Kunststoffabfallströme und der daraus folgende Importstopp zu einer Verschiebung der Handelsdynamik führten und die Türkei zu einem neuen Ziel für Kunststoffabfälle wurde.
Die genauen Auswirkungen des weltweiten Handels mit Kunststoffabfällen auf die Umwelt und deren Verschmutzung sind zwar nach wie vor ungewiss, aber die schiere Menge der im Umlauf befindlichen Kunststoffabfälle lässt auf einen erheblichen Beitrag zur Verschmutzung schließen. Die grenzüberschreitende Zirkulation von Kunststoffabfällen hat den illegalen Handel verstärkt, und kriminelle Organisationen haben in den letzten Jahren erhebliche Gewinne verzeichnet, indem sie die durch das chinesische Verbot verursachten Marktstörungen ausnutzten. Dieser illegale Handel hat allein in der Europäischen Union einen Wert von rund 15 Billionen Euro erreicht.[2]
Ein politischer Lichtblick?
Bei einem Treffen in Neapel, Italien, 2023 erläuterte ich, warum Europa auf den Export von Plastikmüll verzichten sollte. Dabei kam ein interessanter Dialog mit einem Teilnehmer zustande, der in einer italienischen Behörde für Umweltkriminalität arbeitet. Er erkundigte sich nach meiner Meinung zu dem vorgeschlagenen Gesetz zur Beschränkung der Verbringung von Kunststoffabfällen in der EU. Ich äußerte mich zuversichtlich, dass es zwar kein umfassendes Verbot geben würde, aber Beschränkungen für Nicht-OECD-Mitgliedsländer und einige Regeln für Mitgliedsländer. Er hielt mich jedoch für zu optimistisch. Wie sich herausstellte, hatte er recht, und mein Optimismus blieb unerfüllt. Anstatt ihren Plastikmüll wirksam zu bewirtschaften, entschied sich die EU für eine alternative Option, um die Last zu verlagern, anstatt sie zu bewältigen.
Anfang 2023 einigte sich das Europäische Parlament auf Verhandlungen zur Überarbeitung der EU-Abfallverbringungsverordnung und beschloss, ein Verbot der Ausfuhr von Kunststoffabfällen in Nicht-OECD- und Nicht-EFTA-Länder vorzuschlagen. Nach mehrmonatigen Verhandlungen und Abschwächungen der Verordnung wurde ein Entschluss gefasst.
Gemäß der neu angekündigten EU-Abfallverbringungsverordnung wird die EU die Ausfuhr von Kunststoffabfällen in Nicht-OECD-Länder innerhalb von 2,5 Jahren einstellen. Außerdem sollen die Verpflichtungen für die Ausfuhr solcher Abfälle in OECD-Länder verschärft werden und es gibt nur noch in Ausnahmefällen eine Erlaubnis, diese in ein anderes EU-Land zu bringen. Während diese Entscheidung für Nicht-OECD-Länder von entscheidender Bedeutung ist, hinterlässt das Fehlen einer ähnlichen Entscheidung für OECD-Mitgliedsländer eine eklatante Lücke. Es ist nicht klar, was die letzten beiden Punkte genau beinhalten. Detaillierte Informationen über die Schutzmaßnahmen für OECD-Länder und die Verbringung von Kunststoffabfällen innerhalb der EU liegen in der neuen Verordnung nicht vor. Es ist jedoch klar, dass der Handel mit Kunststoffabfällen eine Form des Kolonialismus[3] ist und sofort beendet werden sollte, indem jedes Land einer internationalen Regelung unterworfen wird, wonach es seinen eigenen Abfall selbst verwaltet.
Der Schlüssel, um die Vereinbarungen zu erreichen, sind die Verpflichtungen und der Überwachungsmechanismus zu ihrer Kontrolle. Wenn der derzeitige Überwachungsansatz unverändert bleibt, hat er keine positive Bedeutung für die Türkei, sondern stellt sogar ein erhebliches Risiko dar. Wir wissen, dass die Überwachung in China nicht funktioniert hat. Es bleibt abzuwarten, was genau getan wird, insbesondere in einem Land wie China, einem der autoritärsten Länder der Welt, das in der Lage ist, fast jeden fliegenden Vogel zu überwachen. Ganz zu schweigen davon, dass der Skandal, der durch die Inspektion der Unternehmen 2B-3B Plast durch Deutschland[4] ausgelöst wurde, in einem Umfeld stattfand, in dem Inspektionen durchgeführt wurden, wobei behauptet wurde, dass die Unternehmen von vorne und hinten überwacht würden. Das Vorhandensein von Überwachungsmechanismen ist also nicht so entscheidend wie das, was sie bewirken. Die Funktionsweise des derzeitigen Überwachungsmechanismus ist höchst verdächtig. Woher wissen wir das? Wir wissen es aus dem Recyclingsektor in der Türkei, der angeblich ständig überwacht wird, in dem es aber jeden Monat 10-15 Brände gibt, ohne dass irgendwelche Präventivmaßnahmen ergriffen werden.[5]
Was passiert mit dem Müll, wenn er nicht mehr exportiert wird?
Die EU ist die Region mit dem höchsten Pro-Kopf-Aufkommen an Kunststoffabfällen und damit der weltweit größte Exporteur solcher Abfälle. Im Jahr 2022 verschickte die EU mehr als eine Million Tonnen Kunststoffabfälle, 33 % davon allein in die Türkei. Diese Menge entspricht etwa 400.000 Tonnen und stimmt mit der Menge an Kunststoffabfällen überein, die in der Türkei im Inland gesammelt wurde. Der Export von Abfällen in ein anderes Land, das seine Abfallentsorgungsinfrastruktur noch nicht organisiert hat, ist inakzeptabel und muss verhindert werden.
Die EU-Verordnung wirft eine wichtige Frage auf: Was wird mit den rund 700.000 Tonnen Kunststoffabfällen geschehen, die die EU in Nicht-OECD-Länder schickt? Hier gibt es mehrere Möglichkeiten:
- Er wird innerhalb der EU entsorgt, oder
- sie werden direkt an neue Recycler in der Türkei geschickt, oder
- er wird in andere OECD-Mitgliedsländer verschickt und dann in Drittländer weitergeleitet.
Die erste Option sollte gewählt werden, aber derzeit sind die Aussichten dafür gering, oder zumindest scheint die EU nicht solche Absichten zu haben. Wenn dies der Fall wäre, wäre ein vollständiges Verbot verhängt worden. Die beiden anderen Optionen sind wahrscheinlicher. Ein geplantes Zollbefreiungsabkommen zwischen der EU und lateinamerikanischen Ländern umfasst beispielsweise auch Kunststoffabfälle. Vor allem Chile und Mexiko sind in dieser Hinsicht Zielländer. Ein weiteres OECD-Zielland ist die Türkei. Damit könnte die Türkei möglicherweise zu einem zweiten China aufsteigen, was keineswegs eine gute Nachricht ist.
Sedat Gündoğdu ist Professor an der Forschungsgruppe für Mikroplastik der Cukurova-Universität, Adana in der Türkei.
Aus dem Englischen übersetzt von Antonia Benterbusch.